Im Reisebus von Freiburg nach Shanghai – auf der Seidenstraße um die halbe Welt
24Jul/10Off

Frans & Verena de Baan: Medikamente für Ulan Bator

Während der rote Shanghai-Bus und seine HeldInnen gestern Abend mit eineinhalbstündiger Verspätung (1,5 Stunden auf 30.600 Kilometer: nicht schlecht!) wieder in Freiburg "gelandet" sind, erreicht uns ein Bericht von den Ex-Avanti-Shanghainesen Frans und Verena de Baan, die über eine spontane Hilfsaktion für Straßenkinder in Ulan Bator erzählen:

Von Shanghai aus reisen nur noch die „Medis“ gemeinsam weiter

In Shanghai trennen sich die Wege der Reisenden: Vier werden via Beijing und Ulan Bator mit der Transsib zurückreisen. Waltrun, eine der vier Transsib-Reisenden, erzählt von einem Mongolei-Reisebuch, in dem auch ein Projekt  einer Ärztin mit Straßenkindern in Ulan Bator beschrieben ist. Ihr wolle sie ihre nicht gebrauchten Reisemedikamente und Spritzen bringen. Im Gespräch kommt dann die Idee auf, dieser Aktion etwas Fleisch am Knochen zu verleihen und unter den Reisegenossen die vielen glücklicherweise nicht gebrauchten Reisemedikamente, das Verbandsmaterial und die Spritzen einzusammeln – eine beachtliche Menge!

Verena versucht, von Shanghai aus den direkten Kontakt zum Projekt zu finden, aber alles stellt sich ein bisschen komplizierter heraus als gedacht: Die im Buch angegebene Kontaktadresse ist eine Reiseagentur ohne ständiges Büropersonal. (Wir erfahren später, dass sie einem in der Mongolei lebenden Israeli - Ron -  gehört, der zusammen mit mongolischen Reiseleitern verschiedene Touren in der Mongolei anbietet).

Ulan Bator

Nach mehrmaligem erfolglosen Telefonieren müssen wir uns (d.h. die de Baans) entscheiden, ob wir wie geplant den Zwei-Tagesausflug über Schotterpisten nach dem 320 Kilometer entfernten Karakorum mitmachen oder aber Ulan Bator und dem Strassenkinderprojekt auf die Spur kommen.  Nach einem Rundgang durchs Museum wird uns die Entscheidung zum Verzicht leicht gemacht: Von Karakorum sind laut Beschrieb nicht einmal sichtbare Ruinen übrig, die wenigen gemachten Funde sind absolut unspektakulär.

Beim Durchstreifen der Stadt per Fahrrad entdecken wir den Charme Ulan Bators. Farbig gestrichene Holzhäuser und Gers (Jurten) ziehen sich die Hänge hoch. Die Farbkombinationen zwischen Dach und Fassade  sind häufig in Pastelltönen gemalt, mit gewagten Farbkombinationen, jeder Farbberater hätte seine wahre Freude daran! Diese Hangquartiere sind für Autos unpassierbar und erinnern an die Favelas in Südamerika – ohne Elendsviertel zu sein (so zumindest unsere Wahrnehmung):  Schuhe, Kleider und Einkaufstaschen der Bewohner deuten auf „untere bis gehobenere Mittelklasse“ hin.

Am folgenden Tag glückt dann endlich ein erstes Treffen mit den beiden Tour Operators Ron und Mrs. Sanada. Wie sind sie als Kontaktadresse in den Anhang des Reisebuchs gekommen? Mrs. Sanada erinnert sich: Ein paar Mal habe sie sozial interessierten Touristen das von Dr. Enkmaa geleitete Projekt mit Straßenkindern vorgestellt, um ihnen die Schattenseiten der Großstadtentwicklung aufzuzeigen, dabei sei auch einmal eine Deutsche mit dabei gewesen. Später hätten sie erfahren, dass ihre Agentur als Kontaktadresse im Buch erwähnt sei. Ron erzählt uns, dass Dr. Enkmaa bei der Polizei angestellt ist. Sie spreche nur mongolisch und sei im Moment auch noch mitten im Umzug. Wir werden uns zeitlich nach ihr richten müssen.

Ron stellt uns für den kommenden Tag eine seiner Mitarbeiterinnen als Dolmetscherin Mongolisch –Englisch zur Verfügung, die aber auch nur wenig Zeit hat und das geplante Interview zwischen zwei Reisegruppen „hineinquetschen“ muss.

Das Projekt „Straßenkinder“

Ulan Bator ist seit 1989 ständig gewachsen, sodass heute die Hälfte aller Mongolen in der Provinz (gleichzeitig auch Hauptstadt) leben. Rund eine Million Halbnomaden und Sesshafte versuchen hier, ein Stückchen vom Wohlstandskuchen abzubekommen. Unqualifizierte Arbeitsplätze sind kaum vorhanden, viele Mongolen bauen auf staatliche Unterstützung, welche ihnen bei Neuwahlen regelmässig versprochen wird. Gelegenheitshandel und Nichtstun bestimmen den Alltag vieler männlicher Einwohner Ulan Bators.  Das hat zum Verlust von Familientraditionen, zu Alkoholismus und Drogenkonsum geführt. Kinder wachsen orientierungslos auf, die bisherigen geschlechtsspezifisch arbeitsteiligen Gesellschaftsstrukturen können in der Stadt nicht mehr gelebt werden, neue sind noch nicht vorhanden. Das ist der Grund, weshalb viele Kinder von ihren Eltern ausgestoßen werden oder von zu Hause ausreißen. Die meisten überleben mit Bettelei und  Kleinkriminalität, mit den bekannten Folgen von  Prostitution und Drogensucht. Viele der Kinder haben sich Krankheiten auf der Strasse aufgelesen.

Auf Hilfe fremder Familien (Pflegefamilien) können die Kinder nicht zählen – so Dr. Enkmaa. Es gibt in Ulan Bator keine Tradition für „social responsability, everybody cares just for their own children“. Wenn die Kinder nicht rückgeführt werden können, werden Kinder ohne Familie in einem der 78 Waisenhäuser von Ulan Bator platziert, sofern es dort Platz hat – viele reißen jedoch aus und landen wieder im Zentrum.

Dr. Enkmaa bedauert, dass die Mongolei die Kinderrechtskonvention nicht unterzeichnet hat. Die Kinderrechte sind deshalb nicht einklagbar. So können bereits 12-Jährige zu Gefängnisstrafen verurteilt werden – je nach Schwere des Delikts. In diesem Umfeld ist dieses Straßenkinder-Projekt ein leuchtender Stern. Den Kindern und Jugendlichen soll geholfen werden, ohne sie zu verurteilen oder gar zu kriminalisieren.

Das Zentrum beherbergt momentan 54 Kinder und jugendliche Obdachlose, das jüngste Kind ist vier Jahre alt, das älteste 17 Jahre. Die von der Polizei auf der Strasse aufgegriffenen Kinder kommen ins Zentrum zur Abklärung (laut Dr. Enkmaa kommt durchschnittlich auf 70.000 Kinder ein Polizist, wie viele Kinder wirklich auf der Straße leben, ist eine Dunkelziffer).  Im Zentrum wird versucht, herauszufinden, zu welcher Familie die Kinder gehören, es gibt einen Gesundheitscheck, sie erhalten vorläufig Aufnahme und Nahrung. Kürzeste Aufenthaltsdauer ist vier Tage, die längste Aufenthaltsdauer ist heute auf ein Jahr beschränkt.

Als das Zentrum 1996 gegründet wurde, war es als Drehscheibe zur Rückführung in die Familie oder Überführung in ein Waisenhaus gedacht ohne längerfristige Aufenthaltsmöglichkeit. (Der monatlich zur Verfügung stehende Betrag von 35 Dollar fürs Zentrum richtet sich immer noch danach!) Diese kurze Aufenthaltsdauer hat sich in der Praxis  als unrealistisch herausgestellt. Vielfach war es den Kindern nicht zumutbar, zu den Eltern zurückzukehren (z.B. wegen körperlicher und/oder sexueller Gewalt) oder die Eltern waren verschwunden, hatten die Kinder vor die Tür gesetzt usw. Einige der Kinder reißen immer wieder von zu Hause aus und werden wieder und wieder von der Polizei aufgegriffen.

Heute wird versucht, mit den Eltern zusammenzuarbeiten und sie zu befähigen, dass sie sich den Kindern widmen können. So wird ihnen z. B. geholfen, sich in Ulan Bator registrieren zu lassen und damit ein Anrecht auf die staatliche Beihilfe (Wohnung, Schulung der Kinder, Nutzung von Arbeitsvermittlungsstellen, sporadische monetäre Auskehrungen durch die Regierung) zu bekommen.

Unsere Zeit mit Dr. Enkmaa ist sehr knapp, für Fragen unsererseits bleibt kaum Zeit. So haben wir nichts über die Schulung der Kinder in Erfahrung gebracht, die längerfristig hier sind. Dr. Enkmaa erwähnte nur, dass Mädchen Handarbeitstechniken lernen und Jungen lernen zu musizieren.

Von den anderthalb Stunden fürs Interview haben wir eine halbe Stunde Zeit reserviert, um  die Medikamente nach Gruppen zu sortieren und die Beipackzettel rudimentär ins Englische zu übersetzen und anschließend von der Dolmetscherin ins Mongolische zu übersetzen zu lassen (wir haben nur Erwachsenenmedizin dabei -  das erläutern wir immer wieder bei der Mengenangabe jedes einzelnen Medikamentes). Frau Enkmaa, die bisher eher kühl und distanziert erzählt hat, blüht jetzt auf. Sie ist in ihrem Element!

Nach dieser Tour de Force, (während Frans einen Beipackzettel ins Englische übersetzt, liest Verena bereits den nächsten, den sie auf englisch zusammenfasst und anschließend vorträgt usw.) haben wir Gelegenheit, die neuen Räume mit den Etagenbetten à la Jugendherberge der 50er Jahre zu besichtigen und den Kindern „Hallo“ zu sagen. Auffallend ist, dass nirgendswo persönliche Besitztümer der Kinder zu sehen sind, Kleiderkästen machen wir keine aus.  Eine Gruppe Jugendlicher ist dabei, die mongolische Geige zu lernen.

Draußen im Hof erleben wir eine seltsame Zeremonie mit: Alle Kinder reihen sich der Größe nach auf und singen ein Lied. Dies ist sicher zu Ehren der modisch gekleideten, weiß gepuderten Dame gedacht, die allen Kindern einen Sack Chips und einen Geldschein verteilt. Anschliessend werden noch ein paar Lieder gesungen, dann rauscht die Dame stöckelnd ohne Blickkontakt zu uns oder den Kindern ab. Der Chauffeur rei´ßt ihr den Wagenschlag auf und weg ist sie. Bei der Dame handele es sich um eine berühmte mongolische Schauspielerin, flüstert uns unsere Dolmetscherin zu. In der Mongolei sei es Brauch, wenn Angehörige verstorben sind, etwas für Kinder zu spenden. Kinder- und Tierseelen gälten als unschuldig und können so  für den Verstorbenen im Jenseits bitten (dies der Inhalt der Gesänge).

Das Straßenkinderprojekt hat uns beeindruckt. Danke, liebe Mitreisende für eure „Medis“ – sie werden an einem nützlichen Ort vernünftige Verwendung finden.

Verena & Frans de Braan

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