Im Reisebus von Freiburg nach Shanghai – auf der Seidenstraße um die halbe Welt
14Jun/10Off

Wolfram Goslich: Xi’an – Gegensätze auf einem Quadratkilometer

Sonntag, fünf Uhr Nachmittag, ich trinke Tee. Von meinem Hotelfenster habe ich einen direkten Blick auf die große Kreuzung West Street und Guangji Lane. Nichts deutet auf einen europäischen Sonntag mit deutlich weniger Verkehr hin, hier leben viele, sehr viele Menschen. 97 Busse in elf Minuten zähle ich, davon zwei Flughafenbusse, zwei Reisebusse und ein Expeditionsbus aus Australien, den ich vor ein paar Tagen schon einmal in Xinjiang, in der westlichen Wüste Gobi gesehen habe. Taxis und Kleinbusse nicht mitgezählt. Wirklich beeindruckend und es sagt mir sehr viel mehr als das, was ich im Reiseführer lese – 7,1 Millionen Einwohner.

Beeindruckend ist dieser Tag für mich schon seit heute Morgen um halb acht. Ich stehe früh auf, um das bessere Licht auf dem islamischen Basar zum Fotografieren zu nutzen. Also, Kamera klargemacht, rein in die Klamotten und einfach loslaufen. Die ersten Händler bauen ihre Stände auf. Ich komme überall bequem voran, muss kaum auf die kleinen Rikscha-Taxis achten. Die erste unsanfte Begegnung mit einer verschleierten Frau auf dem Motorroller mit ihrem Kind auf dem Sozius, die mich ganz absichtlich schwer anrempelt, weil ich ihr irgendwie im Wege stehe.

Ich lasse mich treiben, laufe kreuz und quer durch zahlreiche Gassen, vorbei an einer Garküche, der Mann stapelt gerade über 20 Gartöpfe zu einer riesigen Pyramide übereinander, seine Frau reicht ihm weitere Töpfe nach oben, er kann das obere Ende kaum noch selbst erreichen, die Pyramide ist weit über zwei Meter hoch. Vorbei am Eingang zu einer Moschee, viele Muslime auf dem Weg hierher, X‘ian hat eine sehr große muslimische Gemeinde. Weiter, vorbei an zwei- bis dreistöckigen Häusern, alle Fenster vergittert, dazwischengeklemmt Fahrräder oder anderes Zeugs, für das in den beengten Wohnungen  kein Platz ist. Unten auf dem Gehsteig prüft ein Händler einen 100-Yüan-Schein auf seine Echtheit. Macht hier jeder, selbst Banken nehmen Falschgeld zurück, das sie selbst vorher ausgegeben haben.

Ich komme an einen kleinen Platz. Verkehrsstau! Ein paar Frauen mit Schildern stehen stumm auf der Straße. Eine Demonstration? Ich weiß es nicht. Bin etwas hilflos, weil ich nicht verstehe, was auf den Schildern steht. Dahinter sitzt auf einem Brett mit vier Rollen darunter, eine kleine zierliche Frau, am ganzen Körper mit Ekzemen übersät. Vor sich auf dem Rollwagen zwei Boxen und darauf zwei Mikros. Ein junger Mann ist dabei, ihr zu helfen, die Mikrostecker anzuschließen. Er trägt einen weißen Stock. Seine Augen blicken nirgendwo hin. Er ist blind. Nach einigen Minuten setzen sich die beiden langsam in Bewegung. Es läuft chinesische Popmusik und die beiden singen dazu – Karaoke!

Die Frau schiebt einen roten Plastikeimer, der an ihrem Rollbrett mit einer Schnur befestigt ist, vor sich her. Ich schmeiße ein paar Yüan rein. Ich höre die beiden noch ganz lange, wie sie als kleine Prozession durch die engen Gassen zwischen Ständen mit Tomaten, Kohl und kleine Katzen in Käfigen ziehen.

Hier werden Tiere verkauft, kleine süße Hunde und Katzen in winzigen Käfigen, in denen sie alles andere als glücklich aussehen. You want buy? 800 Yüan! Ein Chinese, der mich auf Englisch anspricht, bietet mir den Hund seines Bekannten an.

Ich zögere immer mal wieder zu fotografieren, tue es doch, es sind oft Bilder, die das Ganze erst begreiflich machen. Wie auch die Szene, die sich nur 2 Minuten später abspielt.

Ich passiere ein Mietshaus, mein Blick geht in den Hinterhof, wo zwei Männer Federball spielen. Aber nicht wie bei uns auf dem Campingplatz an der Ostsee, sondern eben wie zwei Chinesen, die es drauf haben. Ich stelle mich dazu, mache ein paar Fotos und hab nach ein paar Minuten einen der beiden Federballschläger in der Hand und spiele. Erst noch etwas verhalten, lange nicht mehr gespielt, dann kommt die Erinnerung an Vor- und Rückhand wieder und es geht ab. Mein Partner ist Profi, wir powern uns aus, die Zeit verrinnt, ich stehe in einem chinesischen Hinterhof am Sonntag früh und spiele Federball - super! Bei meinem Partner möchte ich mich nach dem Spiel bedanken. Er lächelt, strahlt und ich begreife, dass der Mann taubstumm ist.

Es sind wirklich oft die ganz kleine Szenen, die mich wirklich berühren.

Zurück zum Hotel, mein Blick fällt auf eines der zahllosen Rikscha-Taxis. Kurz verhandelt, 15 Yüan und los! Vorbei an einer jungen Frau, die mitten auf der Kreuzung ihr Kind stillt und mit einem Schild, offensichtlich um Almosen bittet. Zum Glück stehen wir einen Augenblick, sodass ich der Frau etwas Geld in die Schale werfen kann. Ich sitze hinter dem Rikscha Fahrer und verstehe wieder ein ganz klein wenig, wie Leben in China zu funktionieren scheint. Es gibt im Grunde genommen keine Verkehrsregeln, Vorfahrtsregeln schon gar nicht, alles regelt sich im freien Spiele der Kräfte, zuweilen recht ruppig, aber seltsamerweise kommt er mit seinem Taxi genauso voran die die anderen auch. Manchmal stehen wir minutenlang, ich nutze die Gelegenheit, aus dem Taxi heraus ein paar Szenen zu fotografieren, die ich sonst gar nicht wahrgenommen hätte. Vorbei an kleinen Lieferwagen, aus deren Bäuchen gerade Tiergedärme und riesige Leberbrocken quellen, die auf die Verkaufsstände gepackt werden. Ein Kater auf dem Tresen lauert auf seine Chance! Frauen fächern die Fliegen beiseite. Gegenüber gleitet ein gut gekleideter Mann im schwarzen Passat vorbei, dazwischen genervte Passanten, die in dem Gewusel auch nicht vorankommen. An einem Stand mit herrlichen Walnüssen beschließe ich, auszusteigen, nicht wegen der Walnüsse, sondern weil wirklich nichts mehr geht. Ich gebe dem Mann 5 Yüan für den Teil der Fahrt bis hierher. Lehnt er erstmal ab, weil er natürlich die ganze Fahrt machen will, ein Hin und Her, schließlich klemme ich ihm die 5 Yüan auf den Tacho und er lächelt zufrieden.

Keine Stunde später sind wir in einer kleinen Gruppe unterwegs zur Stadtmauer und in den so genannten Stelenwald, der viel über die chinesische Geschichte erzählt. Wir haben gerade die große Kreuzung am Bell Tower, dem Glockenturm mitten im Zentrum der Stadt passiert und ich sehe Kameras. Zwei Frauen, die mit wirklich leistungsstarken Vollformatkameras zwei kleine Jungen ablichten. Die Mütter sind damit beschäftigt, die Bälger in Szene zu setzen. Der kleinere, eigentlich noch ein Baby, versteht natürlich die ganze Nummer nicht, schreit, heult, als seine Mutter ihn permanent mit dämlichen Gebärden animiert, irgendwelche bescheuerten Faxen zu machen. Der Kleine ist verunsichert, schmeißt die Bälle weg, die ihm immer wieder in die Hand gedrückt werden, immerhin weiß er sich zu wehren. Zwei Meter weiter der größere Bengel. Billige H & M Castingnummer! Die Fotografin hat offensichtlich ‘ne eingebaute Motivklingel und ballert drauf los: Käppi ganz cool schräg links, schräg rechts, der Kleine weiß auch nicht so recht, die Mami stellt mal eben seinen rechten Fuß an die Hauswand, damit’s noch cooler aussieht, auf der anderen Seite zerrt die Assistentin an dem armen Model rum, seine Augen verraten für Momente den Genuss, im Mittelpunkt zu stehen und im nächsten nicht zu wissen, in welchem Film er gerade ist. Zeitvertreib von überkandidelten chinesischen Muttis, die mit ihren kleinen Schmusebären am Sonntagvormittag  im Breitreifen-Pajero mit laufender Klimaanlage zum Fotoshooting nach downtown X‘ian düsen.

Alles, was ich beschreibe, spielt sich jeweils keine 800 Meter voneinander entfernt ab. Unglaublich? Unverständlich? Moderne? Fortschritt? Abscheu? Offenheit? Offene Gesichter? Funktionierendes Chaos? China 2010?  -  Ja, von allem etwas.

Zu guter Letzt, abends,  auf dem Rückweg ins Hotel: Ein Mann bringt sein Motorrad am hell illuminierten Belltower in Stellung. Das Motorrad sieht auf den ersten Blick aus wie ‘ne alte Stalinorgel, erst bei näherem Hinsehen erkenne ich ein riesiges Teleskop Fernrohr von bestimmt zwei Metern Länge, durch das man angeblich den Saturn sehen kann – 10 Yüan! Links und rechts davon lassen Leute auf dem Platz unzählige bunte Papierdrachen an einer langen Leine in den Nachthimmel steigen, die sehe ich auch so und es ist ein wirklich traumhaft schönes Bild.

Schöne Träume in China!

Wolfram Goslich

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14Jun/10Off

Wolfram Goslich …aus dem „Verkehrsstudio Zentralchina“

Eigentlich dachte ich, das Thema Straßenverkehr in China hätte ich erschöpfend beschrieben. Ein Tag unterwegs schmeißt das sofort über den Haufen. Wir verlassen Lanzhou auf dem Weg nach Osten zu den Majishan-Grotten. Es wird gebaut, Abflussrohre werden verlegt, mitten auf einer Ausfallstraße raus aus der Stadt. Die Baustelle liegt über ein bis zwei Kilometer mitten auf der Straße. Viel Verkehr, wie immer, es wird eng, alles drängelt auf die engen Durchlässe zu, die die Baustelle immer wieder freigibt. Da in China genau wie bei uns rechts gefahren wird, drängeln sich zunächst die meisten auf der richtigen Straßenseite in die enge Spur. Einige haben das schon sehr früh aufgegeben, allen voran die Linienbusse, die in den Gegenverkehr hineinfahren und sich durchschlängeln.

Uns bleibt vorerst nichts anderes übrig, als rechts gnadenlos mitzudrängeln, die Gesichter der meisten Fahrer verraten hohe Konzentration, Platzgewinn erzielen. Wir tricksen erfolgreich einen Lkw aus, der mit seinem rechten Außenspiegel schon bei uns am Bus klebt, aber so erfolgreich abgedrängt worden ist, dass er rückwärtsfahren muss, um überhaupt weiterzukommen. Das dauert und wird einem anderen Linienbus zu bunt, der eine weitere Lücke aufgetan hat und alle nunmehr rechts auf dem Bürgersteig zwischen kleinen Akazienbäumen überholt – gefolgt von einer ganzen Horde Pkws, die die Chance nutzen. Passanten habe ich dort gar nicht mehr gesehen. Mitten in den Gegenverkehr reinzufahren, nicht weiteren Drängeleien ausgesetzt zu sein, weil die Entgegenkommenden meist nur weichen können, hat sich dann als beste Lösung rausgestellt, uns wirklich weitergebracht und im Grunde genommen dafür gesorgt, Verkehrsregeln nur noch in Ausnahmefällen oder besonders unübersichtlichen Situationen zum Maß der Dinge zu machen.

Die Straße ist zur Fläche geworden, die in voller Breite zum Vorankommen genutzt wird, amerikanisch abbiegen nach links z.B. beginnt somit direkt an der Einmündung zur Kreuzung, wenn sich eine Lücke bietet und funktioniert selbstverständlich auch mit einem Dreiachser-Reisebus. Beim ersten Mal fragen wir uns noch ungläubig, geht das so? Soll ich wirklich? Danach wird aus dem Manöver bereits eine fließende Bewegung.

Dass zwei Autofahrer am Ende eines Autobahntunnels einen Auffahrunfall verursachen und sich in aller Seelenruhe im Tunnel ohne jegliche Hast und Eile darüber verständigen, keinen Warnblinker, geschweige denn Licht einschalten, sei hier nur am Rande erwähnt.

Manchmal frage ich mich, wie ich mich nach meiner Rückkehr jemals wieder an deutsche Gepflogenheiten auf der Straße im Auto gewöhnen soll.

Blog schreiben im Wohnzimmer, im rollenden Wohnzimmer - angenehmer geht’s kaum. Schon deshalb, weil durch den ständigen Szenenwechsel vor meinen Augen immer noch ein paar kleine Schlaglichter zum Notieren dazukommen. An den hinteren Tischen im Bus - die Laptops surren, manche lesen Zeitung oder Reiseführer - sieht es aus wie im ICE, nur mit dem Unterschied, dass es wesentlich entspannter ist, der Kaffee schmeckt, der Service aufmerksam ist, die Ansagen verständlich sind und nicht gebellt werden. Einfach entspanntes Reisefeeling!

Nicht, dass ich etwas gegen das Bahnfahren hätte, aber es zählt eben nicht nur die Technik, die haben heute alle, sondern die Art und Weise, Reiseatmosphäre zu schaffen, Gastgeber zu sein, wie Hans-Peter Christoph immer wieder betont.

Wolfram Goslich

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14Jun/10Off

Avanti Shanghai: das Gruppenfoto

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